Aughände
In der Kirche meiner Kindheit. Es ist dunkel, nur schmale Streifen von Licht fallen über die Empore in bizzaren Streifen, während die Gänge unter der Empore ganz im Dunkel verschwimmen. Jemand spielt Orgel. Die Klänge wirken in der leeren Kirche zugleich unheimlich, aber auch wunderschön. Es ist, als würde ich die Töne nicht nur hören, sondern mit meinem Körper wahrnehmen. Obwohl ich einige Meter vom Altar entfernt stehe, scheint das verzerrte Gesicht des riesigen "Barlach"-Christus direkt über mir zu schweben. Ein Spatz sitzt auf einer der Dornen seiner Krone, pickt wie selbstverständlich von hier nach dort und fängt die Würmer aus dem Holz. Ich warte auf meinen Vater. Er ist auf den Turm gestiegen, um die Glocken zu läuten, aber bis auf die Orgel ist nichts zu hören. Ich setze mich auf eine der Holzbänke und warte. Auch die Holzbänke sind von Würmern durchlöchert. Plötzlich höre ich Schritte, aber nicht die hinkenden meines Vaters. Die Kirche ist bis auf die Tür zur Sakristei abgeschlossen. Angestrengt starre ich in das Dunkel um mich herum. Ein altes Mütterchen tritt hervor, setzt sich direkt neben mich. Ihre Augen leuchten veilchenblau und sind mit Tränen gefüllt. "Was ist mit Ihnen?" frage ich. Da reißt sie sich blitzschnell beide Augen aus dem Kopf, mit blutschwarzen Höhlen sitzt sie vor mir, streckt mir die Hände entgegen, in welchen die Augäpfel liegen. "Für dich!" Erschrocken wehre ich ab und will weglaufen. Andererseits möchte ich sie auch nicht allein so sitzen lassen. Was tun? Während ich aufgesprungen bin und panisch überlege, hat sie mir schon in jede Hand einen der Augäpfel gedrückt, als würde sie noch immer sehen können. Das Seltsame ist, daß die Augen mit meinen Händen verschmelzen, bis schließlich aus jeder Hand ein veilchenblaues Auge herausschaut. Ich habe ein ungeheuer schlechtes Gewissen. Wenn das mein Vater sieht, wird er mich fragen, was ich wieder angestellt habe. Er wird bestimmt sauer sein, daß ich der alten Dame die Augen geklaut habe und dabei war ich das gar nicht. Erst nach minutenlangem Grübeln fällt mir auf, daß mich die Frau wieder mit zwei völlig gesunden Augen anschaut. Puh, da bin ich aber froh. Vor Erleichterung möchte ich sie fast küssen. Sie lacht und zeigt zu den Fenstern. Das Glas zerschmilzt im Morgenlicht, ein bunter Schwall fließt schillernd die Wände hinunter. Vögel flattern hinein und hinaus und auf einmal ähnelt die Kirche mehr einer schimmernden Grotte. Der Anblick ist hinreißend.
Unheimliche Träume - Montag, 6. Oktober 2008, 19:09